Die Partitur der göttlichen Musik (2)

Ein paar hermeneutische Thesen

Der vorige – von Haso inspirierte – Post ist mir zu einer Parabel über den Umgang mit der Bibel geraten: Die Bibel als Partitur, nach der Menschen ihre Lebens-Musik machen. Jetzt will ich, anknüpfend an diese Parabel, in ein paar Thesen zusammenfassen, was sich für mich aus diesem Vergleich ergibt:

  • Der lebende Christ ist kein Störfaktor – im Gegenteil!
    Lebendige, handelnde Christen sind für das Reich Gottes so essentiell wie die Musiker bei der Aufführung von Beethovens Pastorale (das war Hasos Beispiel). Musiker mit ihren Gaben, Traditionen, persönlichen Eigenheiten und ihrem Verständnis des jeweiligen Werkes sind keine Störfaktoren, die man leider in Kauf nehmen muss. Gerade durch diese ganzen Einflüsse wird die Musik (von neuem) farbig und lebendig.
    Genauso sind lebendige Christen mit ihrer Persönlichkeit, ihrer Kultur, ihrer Geschichte usw. keine möglichst zu reduzierenden Störfaktoren. Die Bibel ist darauf angelegt, sich durch die Subjektivität von Menschen hindurch zu verwirklichen. Gerade die Umsetzung biblischer Überlieferung durch konkrete Menschen hindurch ruft nach dem Geist, lässt die Überlieferung von neuem aufleben. Nur so wird sie erkennbar und gewinnt Macht über Menschenherzen. Es ist einfach nicht zu vermeiden, dass wir mit unserem Leben soviel zur biblischen Überlieferung dazu tun wie ein Musiker bei der Aufführung zu einer Partitur – im Guten wie im Bösen. Gott hat es so gewollt. Und das ist gut so.
    Kann man eigentlich auch hier von einer „Inkarnation“, wenn auch zweiter Ordnung, sprechen?
  • Ist es eigentlich ein Kompliment, wenn irgendetwas sich „biblisch“ nennt?
    An allen Ecken der Christenheit finden sich „biblische“ Christen, Werte, Gemeinden, Standpunkte, Sichtweisen, Predigten usw. Ich finde das etwa so sinnvoll, wie wenn ein Dirigent hervorheben würde, dass er die Pastorale „notengetreu“ aufführt. Natürlich erwarte ich, dass in einem Konzert die angekündigten Stücke gespielt werden und keine anderen. Aber erst danach wird es doch interessant: wie werden diese Noten interpretiert? Wie singt der Sänger das Lied? Hat er – aufgrund seiner besonderen Begabung und Prägung – etwas Neues darin gefunden, was ich vorher noch nicht gesehen bzw. gehört habe? Genauso wenig, wie es die eine „richtige“, „werkgetreue“ Aufführung der Pastorale gibt (und die anderen wären dann nur Interpretationen), gibt es die eine „biblische“ Version des Evangeliums (und das andere wäre Menschenlehre). Es gibt allerdings Menschen und Traditionen, die ihre Interpretation mit dem Original verwechseln – in der Musik wie in der Kirche.
  • „Einfach nur die Bibel“ gibt es nicht
    Sich „einfach nur nach der Bibel zu richten“ ist deshalb genauso wenig möglich wie „einfach nur die Noten, die dastehen“ zu spielen. Alles ist immer schon (gute oder schlechte) Interpretation. Aber das ist kein zu minimierender Störfaktor, sondern geplant, gewollt, Teil von Gottes Wunsch, den Menschen nach seinem Bilde zu schaffen: nämlich als schöpferisches Wesen.
  • Die entscheidende Frage ist, ob die Bibel gelebt wird
    Theologie auf jeder Ebene – von der Uni bis zum Bibelkreis – soll dafür sorgen, dass die Partitur gespielt wird – die Bibel zum Klingen kommt im realen Leben von Menschen. Bibelstudium (wie gesagt – auf jeder Ebene) hat dafür eine dienende Funktion – so wie ein Musiker die Partitur und ihre Zusammenhänge studieren muss, bevor er sie aufführen kann. Es kann aber auch dazu führen, dass man sich das Wagnis einer „Aufführung“ schenkt und sich mit Notenstudium begnügt. Das bringt Menschen hervor, die ungefähr wissen, wie es klingen müsste, auch sagen können, wenn andere von der Partitur abweichen, aber nicht selbst spielen. Das kann u. U. mehr schaden als nutzen.

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