Wie tief ist das Kaninchenloch?

Systemlogik des „Christentums“ (2)

Mit dem Titel seines zweiten Posts zur Systemlogik des „Christentums“ vom 10.2.2007 erinnert Alan Hirsch an die Szene aus dem Film „Matrix“, in der die Hauptfigur Neo das Versprechen hört: „wenn du die rote Kapsel nimmst, führe ich dich in die Tiefen des Kaninchenbaus“. Dies wiederum ist eine Erinnerung an „Alice im Wunderland“. Es geht um die tiefen Grundmuster, um die Geheimnisse unter der Oberfläche, wo die Dinge anders sind, als sie zunächst scheinen.

Wir haben hier bisher den Begriff der kulturellen Distanz sowie der Systemgeschichte/Systemparadigma diskutiert, und nun wollen wir uns näher mit dem Grundmuster beschäftigen, das das „Christentum“ seinem Kirchenbegriff zugrunde legt (die „Patrix„??). Also, wie passen diese Begriffe zum „Christentum“ und unserer gegenwärtigen Situation?

Die Transformation der Kirche von einer am Rande der Gesellschaft angesiedelten Bewegung zu einer zentralen Organisation wurde eingeleitet mit dem Edikt von Mailand (313 n. Chr.)
Mit ihm erklärte der frischgekrönte Kaiser Konstantin, der für sich eine Bekehrung zum christlichen Glauben beanspruchte, das Christentum zur offiziellen Staatsreligion [Anm. d. Übers.: kleiner Irrtum – auch wenn das Edikt besonders das Christentum thematisierte, gestand es allen Menschen das Recht der freien Religionswahl zu, es war ein Toleranzedikt.] und entzog damit letztendlich allen anderen die Anerkennung. Aber Konstantin ging es um weitaus mehr, als nun den christlichen Glauben zur obersten offiziellen Religion zu machen: um seine politische Macht abzusichern, strebte er danach, Kirche und Staat in einer Art heiliger Umarmung zu verbinden. So versammelte er die christlichen Theologen und verlangte von ihnen, eine einheitliche Theologie zu entwickeln, um die Christen seines Reiches zu vereinigen und dadurch die politische Verbindung zwischen Kirche und Staat auf eine feste Grundlage zu stellen.

Es verwundert nicht, dass er auch für eine zentralisierte Kirchenorganisation mit Sitz in Rom sorgte, um die Kirchen zu kontrollieren und die Christen überall in einer staatsnahen Institution zusammenzufassen. Und damit wurde alles anders und das, was später „Christentum“ hieß, war ins Leben gerufen.

Stuart Murray (in „Post-Christendom“) kommentiert diese Verbindung:

Die Basis des „Christentum“-Systems war eine enge, manchmal vollständige Partnerschaft zwischen Kirche und Staat, den beiden Hauptpfeilern der Gesellschaft. Zwar gab es immer wieder Machtkämpfe zwischen Päpsten und Kaisern, die dazu führten, dass der eine oder der andere für eine Zeitlang die Oberhand behielt. Aber grundsätzlich akzeptierte das „Christentum“, dass die Kirche mit dem als christlich verstandenen Status Quo verbunden war und Interesse an seiner Aufrechterhaltung hatte. Die Kirche gab dem staatlichen Handeln Legitimation, und der Staat half mit seiner Macht, gesamtkirchliche Entscheidungen durchzusetzen.

Es ist eindeutig, dass nach Konstantins Deal mit der Kirche eine Menge sehr einschneidender Verschiebungen zustande kamen. Um unsere Erfahrungen mit „Christentum“ besser zu verstehen, müssen wir uns einen Überblick über die hauptsächlichen Verschiebungen verschaffen, die damals eintraten. Wenn wir uns an Stuart Murray anschließen, dann sind es die folgenden:

  • Die Übernahme des christlichen Glaubens als offizielle Religion einer Stadt, eines Landes oder eines Reiches
  • Die Bewegung der Kirche von den Rändern der Gesellschaft in ihr Zentrum
  • Die Erschaffung und Weiterentwicklung einer christlichen Kultur oder Zivilisation
  • Die Annahme, dass alle Einwohner – mit Ausnahme der Juden – durch Geburt Christen seien
  • Die Entwicklung einer religiös geprägten Gesellschaft (das „Corpus Christianum“) ohne Religionsfreiheit, in der politische Macht als göttlich legitimiert galt
  • Die Kindertaufe als Symbol der obligatorischen Eingliederung in diese christlich geprägte Gesellschaft
  • Der Sonntag als vorgeschriebener Tag für Ruhe und Kirchenbesuch, mit Sanktionen bei Nicht-Einhaltung
  • Das Verständnis von „Orthodoxie“ im Sinne eines von allen geteilten, gemeinsamen Glaubens, der von mächtigen Kirchenführern mit staatlicher Unterstützung definiert wurde
  • Die Durchsetzung eines vermeintlich christlichen Moralstandards für die ganze Gesellschaft (wobei aber normalerweise alttestamentliche Moralstandards zugrundegelegt werden)
  • Ein hierarchisches Kirchensystem, gegliedert nach Diözesen und Parochien, analog zur staatlichen Hierarchie und untermauert durch staatliche Unterstützung
  • Der Bau von gewaltigen, künstlerisch gestalteten Kirchengebäuden für entsprechend große Gemeinden
  • Die grundlegende Unterscheidung zwischen Klerus und Laien, und der Verweis der Laien in eine größtenteils passive Rolle
  • Wachsender Wohlstand der Kirche und die Einführung des obligatorischen Zehnten, um dieses System mit den nötigen Mitteln auszustatten
  • Die Verteidigung der christlichen Religion durch gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Häresie, Unmoral und Angriffen auf die Einheit der Kirche
  • Die Aufteilung der Welt zwischen „Christentum“ und „Heidentum“ und die Führung von Kriegen im Namen Christi und der Kirche
  • Die Nutzung von politischer und militärischer Macht zur Ausbreitung des christlichen Glaubens
  • Der Gebrauch des Alten Testaments statt des Neuen, um diese Veränderungen zu rechtfertigen

Diese grundlegende Verschiebung hin zum „Christentum“ war eine absolute Katastrophe für die Jesusbewegung, die gerade auf dem Weg war, die römische Welt von unten her zunehmend zu verändern. Rodney Stark, anerkannter Fachmann für die Kirchengeschichte dieser Epoche, beschreibt es mit dramatischen Worten:

Viel zu lange haben Historiker die Behauptung übernommen, dass die Bekehrung von Kaiser Konstantin (ca. 285 – 337) zum Sieg des christlichen Glaubens führte. In Wirklichkeit zerstörte er gerade dessen attraktivste und dynamischste Seiten, indem er eine kraftvolle Graswurzelbewegung in eine arrogante Institution verwandelte, die unter Kontrolle einer Elite stand, die es fertigbrachte, gleichzeitig brutal und liberal zu sein.

Ganz offensichtlich ist die Konstantinische Wende für die Kirche ein fundamentaler Einschnitt gewesen. Und ich glaube, dass dieses Bild, dieses Konzept von Kirche, das damals durchgesetzt wurde, auch heute noch vorherrscht. Nicht in allen Einzelheiten natürlich. Aber das bestimmende Bild von der Kirche als Institution, das damals eingeführt wurde, beherrscht immer noch unsere Vorstellung.

Im Blick auf Mission ist das Problem, das sich daraus ergibt, und mit dem wir uns unbedingt auseinandersetzen müssen, etwa folgendes: während das „Christentum“ als religiös-politisch-kulturelle Macht inzwischen Vergangenheit ist (im Wesentlichen ein Ergebnis der Aufklärung), ist es immer noch das überwältigend vorherrschende Kirchenbild, das unserem Handeln zugrundeliegt. Es sieht so aus, als wäre Konstantin immer noch der Kaiser unserer Vorstellungswelt.

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